Von den „Bloodlands“ zum vereinigten Europa

Lieber Timothy Snyder, lieber Joachim Lohse, liebe Antonia Grunenberg, lieber Gerd Koenen, liebe Mitglieder der Jury, meine Damen und Herren!



Ich kann mich den Glückwünschen an die Adresse der Jury zur Wahl des diesjährigen Preisträgers nur anschließen. Nicht nur deshalb, weil sein großes Werk „Bloodlands“ perfekt zu dem großen europäischen Gedenkjahr passt, vor dem wir stehen - 2014, hundert Jahre Beginn des Ersten Weltkrieges, fünfundsiebzig Jahre nach Beginn des Zweiten Weltkrieges und fünfundzwanzig Jahre nach der großen Zäsur der demokratischen Revolution in Osteuropa -, sondern weil Timothy Snyder auch in enger Verbindung zu früheren Trägern des Hannah-Ahrend-Preises steht, insbesondere zu Tony Judt, dem Preisträger von 2007. Er hat posthum einen Band mit Gesprächen veröffentlicht, die er mit Judt über sein Leben und zur Geschichte des 20. Jahrhunderts führte - „Nachdenken über das 20. Jahrhundert“ -, den ich sehr zur Lektüre empfehlen möchte. Die Wahl von Timothy Snyder erinnert auch an andere Preisträger, z. B. an Francois Furet und seine „Geschichte des Kommunismus“, aber auch an Elena Bonner. Es gibt eine gewisse Linie in den Entscheidungen der Jury des Hannah-Ahrendt-Preises, die sich in dem diesjährigen Preisträger fortsetzt.



Was ich an Ihrem Buch, neben vielem anderen, wozu heute noch Berufenere sprechen werden, besonders erhellend fand, war der Bogen, den Sie zum Jahr 1914 geschlagen haben. Der erste Weltkrieg hat die Büchse der Pandora geöffnet, aus dem die Schrecken emporstiegen, die dann dieses europäische zwanzigste Jahrhundert, genauer die erste Hälfte des Jahrhunderts, gekennzeichnet haben: Nationalismus, Völkerkrieg, Klassenkrieg, Entfesselung schrankenloser Gewalt, Deportation, Völkermord – ich erinnere an den Mord an den Armeniern am Ende des ersten Weltkrieges, der für Hitler ein erster Großversuch ethnischer Säuberung und genozidaler Politik war, den er sehr wohl beobachtet hat; auch ein Test darauf, was die internationale Öffentlichkeit, die Völkergemeinschaft hinzunehmen bereit war. Aushungerung als Waffe, auch das ist bereits im ersten Weltkrieg und in den folgenden Jahren erprobt worden. In Russland sind schon 1920/1921, bei der ersten Welle der Konfiskation von Getreide und des Angriffs auf die privaten Bauern, mehrere Millionen Menschen verhungert – ein Vorläufer der zweiten großen Welle 1932/1933, die vor allem in der Ukraine stattfand.



Man muss darüber nachdenken, weshalb diese exzessive Gewalterfahrung, die mit dem ersten Weltkrieg begonnen hat – dazu gehört auch der monströse Stellungskrieg, mit dem Millionen von Soldaten für minimale Geländegewinne abgeschlachtet wurden – wieso diese exzessive Gewalterfahrung nicht zu einer Pazifizierung der europäischen Politik führte, sondern im Gegenteil zur zunehmenden Radikalisierung. Sie setzte schon vor dem Ausbruch der großen Weltwirtschaftskrise 1929 ein, und zwar beileibe nicht nur in der Sowjetunion und in Deutschland, den beiden revisionistischen Mächten im Zwischenkriegseuropa, die auf Umsturz der politisch-territorialen Ordnung aus waren, die nach dem ersten Weltkrieg entstand. Dabei ging es ihnen nicht nur um eine Revision der Grenzen, sondern um die Umwälzung der gesamten gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse. Insofern war auch der Nationalsozialismus eine revolutionäre Macht. Er war auf Umsturz aus, und zwar nicht nur auf staatlichen Umsturz, sondern auf den Umsturz aller Werte. Timothy Snyder arbeitet sehr gut heraus, dass Gewalt in der Sowjetunion, vor allem beim Stalinismus, als Mittel der inneren Kolonisierung der Gesellschaft eingesetzt wurde, während exzessive Gewalt für den Nationalsozialismus Teil der Lösung der sozialen Frage in Deutschland durch Errichtung eines germanischen Imperiums im Osten war. Das schloss Kolonisierung, Deportation, Assimilation einer kleinen Minderheit und Versklavung und Vernichtung der Mehrheit der Bevölkerung dieses Raums ein. Dieses exterministische Programm richtete sich nicht nur gegen die Juden, sondern auch gegen die slawischen Völker.



Von den ehemaligen Bloodlands Mittel-Ost-Europas haben bisher Polen und die Baltischen Staaten ihren Weg in die europäische Demokratie gefunden, mehr oder weniger gut, aber ich glaube doch irreversibel. Die Ukraine und Weißrussland bleiben bis heute in einer prekären Zwischensituation zwischen Autoritarismus und Demokratie, zwischen einem freiheitlichen Europa und einem Sonderweg, der sich von der westlichen Moderne abgrenzt. Das gilt auch für Russland selbst. Es ist nicht entschieden, welchen Weg diese Länder gehen werden – das liegt auch an uns, an der Politik der Europäischen Union. Wir werden diese Entscheidung nicht stellvertretend für sie treffen können, aber es ist auch an uns, alles zu tun, um den Weg in ein demokratisches Europa für diese Länder offen zu halten. Die Mission von 1989/90, der Prozess der europäischen Integration ist noch nicht abgeschlossen. Wir sollten alles tun, um ihn zu befördern. Er ist erst vollendet, wenn ganz Europa einig und frei ist.



Ich wage die These, dass in diese politische und kulturelle Ambivalenz der Ukraine, Weißrusslands und Russlands die ungeheure Traumatisierung hineinspielt, die Timothy Snyder beschreibt. Die äußerste Gewalterfahrung dieser Zeit wirkt fort, und zwar nicht nur im kollektiven Unterbewusstsein dieser Gesellschaften, sondern auch in ihren gesellschaftlichen Strukturen. Der Terror des Nationalsozialismus wie des Stalinismus richtete sich ja nicht nur gegen Individuen. Zerschlagen wurden die gesellschaftlichen Strukturen in diesen Ländern, und zwar in einer ungeheuren Gründlichkeit, von der sie sich bis heute nicht erholt haben. Es dauert lange, um so etwas wie eine bürgerliche Gesellschaft wieder aufzubauen. Sehr lange!



Vor dem Hintergrund der europäischen Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts grenzt das, was in den Jahren seit 1989 passiert ist - die friedliche Revolution und die Überwindung der staatssozialistischen Regimes, die demokratische Transformation einer ganzen Reihe von Ländern und die Osterweiterung der EU - fast an ein Wunder. Die Aufarbeitung der traumatischen Gewaltgeschichte, die über Mittel-Osteuropa liegt, ist ein wichtiger Beitrag zur europäischen Einigung. Und die Verleihung des Hannah-Arendt-Preises an Tymothy Snyder ist eine gute Gelegenheit, an den Auftrag der europäischen Einigung zu erinnern. Man kann die Europäische Union nicht nur aus der Geschichte begründen, als ein Projekt gegen Gewaltherrschaft, Nationalismus und Völkermord. Aber das war und ist ein wesentlicher Impuls, sich weiter für dieses demokratische und vereinigte Europa einzusetzen. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!